Auf eigenen Beinen gehen - Ich unter den Füßen

Text: Prof. Dr. Lutz Schäfer, Kunstpädagoge

Der Pädagoge Klaus Mollenhauer hat in einem Vortrag 1983 auf die Bedeutung gewiesen, die das Gehen für den Menschen hat und die tiefe Freude vieler Eltern bei den ersten Schritten ihrer Kinder als Zeichen einer Ahnung gedeutet. Er sieht diesen ersten körperlichen Schritt, die neu erlernte Bewegungsform als elementaren Schritt im Prozess der Menschwerdung und demnach als anthropologisches Motiv.

Tatsächlich öffnen sich durch die Fähigkeit des Gehens Möglichkeiten, die den Mensch in besonderer Weise kennzeichnen: das bislang eingeschränkte Blickfeld, das streng nach oben gerichtet war, öffnet sich, durch Kopfbewegungen kann das Kind nun nach oben und nach unten schauen, kann sich um die eigene Achse drehen und so die ganze umgebende Welt samt ihrer Grenzen wahrnehmen. Es bildet sich die Möglichkeit des Perspektivenwechsels, die zur grundlegenden Erfahrung führt, dass ein solcher nicht nur möglich, sondern nötig ist, um Räume ganzheitlich erfahren zu können.

Die Fähigkeit des sich Bewegens im Raum erlaubt dem Menschen aber nicht nur eine multiple, sondern auch eine distanziertere Art der Wahrnehmung. Die Kinder erkennen Grenzen im Raum und erfahren die Handlungsmöglichkeiten zwischen diesen. Dieses Wechselspiel von Nähe und Distanz ist ein Muster, das lebenslang wirksam bleibt.

Für die Entwicklung des Kindes ist es entscheidend, dass die Überwindung von Distanzen willentlich geschieht. Die erweiterten Möglichkeiten der Wahrnehmung durch den Gewinn an Bewegungsfähigkeit führen unmittelbar zu neuen Möglichkeiten der Intentionsbildung. Dabei ist dieses Zusammenspiel von Intention und Bewegung deshalb so spannend, weil die Zusammenhänge zwischen den beiden Dimensionen zunächst nicht hierarchisch zu denken sind. Das Gehen des Kindes ist zunächst Selbstzweck: Ursache des Gehens ist die Fähigkeit des Gehens. Mit dieser Unmittelbarkeit verbinden sich dann aber bald mittelbare Motive, wenn das Gehen als Instrument einer möglichen Absichtsbildung erfahren wird.

In der Beschreibung der Entstehung kindlicher Bewegungsmotive kann man unschwer Parallelen zu künstlerischem Denken und Handeln erkennen, das in besonderer Weise dadurch gekennzeichnet ist, körperliche und intellektuelle Kräfte simultan und nicht nachgängig zu aktivieren. Daraus ergibt sich eine Offenheit des Weges, der nicht intellektuell vorgezeichnet wird: die Ziele entstehen beim Gehen und das Ergangene verändert den aufmerksamen Menschen und somit seine Intentionen.

Das Verhältnis dieser beiden Motive als Kern künstlerischen Arbeitens näher zu beleuchten, kann helfen, die Werke Katharina Meisters zu verstehen. Tatsächlich zeigen sich in der Dimension des Bewegens bei Katharina Meister nicht nur exemplarisch typische künstlerische Motive, sondern auffällige Besonderheiten.

Dies sind zunächst die immensen Unterschiede in den Bewegungsradien der Künstlerin, die ihre kleinste Ausdehnung in ausdauernden Waldläufen, ihre größte Ausdehnung in geographischen Bewegungen bis ans andere Ende der Welt haben. Diese weiten Dimensionen führen zu einem distanzierten Blick, einer Panoramaperspektive, die physische in gedankliche Bewegungen überleitetn. Durch diesen intellektuellen Reflex werden die Bewegungen zu Erfahrungen, aus denen die Künstlerin ihren Stoff generiert, den sie selbst unter dem Begriff der Klimakunst fasst.

Die Transformation der Erfahrungen in Bilder geschieht nicht unmittelbar, sondern über  eine ungewöhnliche Zwischenstufe. Die inneren Auseinandersetzungen führen unter anderem zu Texten, in denen die Künstlerin Ängste formuliert, Bedauern zum Ausdruck bringt und sich tief betroffen zeigt von Bewegungsspuren des Menschen in  der Welt. Diese Emotionen überführt sie in mannigfaltige geistige Räume, in denen sie philosophische, soziologische, biologische und religiöse Kontexte integriert, die sie zu einer politischen Botschaft formt.

Dieser Grad an verbaler Konkretion von Inhalten, der sich in Texten und Gesprächen mit der Künstlerin zeigt, bedeutet für viele Betrachter Erleichterung, weil ihnen keine scheinbar inhaltsleere Kunst zum Schönfinden gegenübersteht. Ganz offensichtlich hat hier jemand etwas zu sagen, und dieses Gesagte wird nachvollziehbar und vielleicht sogar verständlich, weil es im vertrauten Medium der Sprache erscheint. Die Künstlerin setzt kein strategisches Schweigen zur Konstruktion eines Geheimnisses ans Ende ihrer Werke, sondern hilft, Gräben zwischen ihrer Intention und einem möglichen Verstehen des Rezipienten zu überbrücken.

Eine solche Strategie birgt zugleich die große Gefahr, die Bedingung der Offenheit eines Kunstwerks, die Umberto Eco schon in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Programm erhoben hatte, aufzugeben.

Bildnerische Artikulationen erlauben keine eindeutige Lesbarkeit, weil sie per se nicht nur Zeichen rationaler Operationen, sondern immer auch Ausdruck mannigfaltiger emotionaler Dispositionen, sinnlicher Operationen und motorischer Handlungen sind.

Um zu verstehen, wieso man bei Katharina Meister die Absicht hört und nicht verstimmt ist, muss man die Besonderheit ihrer bildnerischen Bewegungen betrachten.

Den Abstand zwischen der Ebene der Intention und des Bildes, der die Qualität eines Kunstwerks ganz wesentlich bestimmt, erreicht Katharina Meister wieder durch das Motiv der Bewegung, in diesem Fall der finalen Bewegungen der Künstlerin bei der Hinwendung zu sinnlich-materiellen Dimension des entstehenden Bildes.

Die Bewegungen führen die Künstlerin schließlich ins Atelier, in einen künstlichen Raum, in welchem sie ihre motorischen Impulse konzentriert, den ausufernden körperlichen und geistigen Bewegungen jetzt enge Grenzen setzt, der Arbeitsplatz, das Papierformat, der Schaukasten. Durch diese Verengung werden die multiplen Perspektiven ihrer Gedankenwelten in einem Akt eiserner Disziplinierung vom Großen zum Kleinen gebändigt.

In diesem mechanischen Akt der Bewegung entsteht eine Pause für den Willen des Geistes. Dieser darf nicht nur loslassen, weil die intendierte Bewegung eingesetzt hat, sondern muss loslassen, weil die Bewegungen bei Katharina Meister ein Höchstmaß an motorischer Präzision erfordern. Alle Konzentration liegt nun im bloßen Moment des Schnitts. Diese Perfektion des Schneidens, die sie sich seit über zehn Jahren angeeignet hat, ist Ausdruck eines unbedingter Formwillens, der die weitreichenden und ausufernden geistigen Bewegungen der Künstlerin, als letzten Schritt im künstlerischen Prozess, körperlich zu konzentrieren versucht.

So steht am Ende von mannigfaltigen geistigen und körperlichen Bewegungsprozessen ein winziger Schnitt mit dem Schneidemesser, der nicht mäandert, sondern präzise gebündelt den Eigenwert der Bildsprache markiert und finaler Ausdruck des unbändigen Willens zur Bewegung der Künstlerin ist.

Er ist im Unterschied zum Wort keine Abstraktionsleistung, sondern eine radikale Konkretion, in welcher sich die unendliche Wirklichkeit reduziert und als materielles Ereignis eine nie endlich zu durchschauende Komplexität menschlichen Schaffens zum Ausdruck bringt.

Karlsruhe Oktober 2016

Erschienen im Katalog Katharina Meister, ISBN 978-3-86206-622-3