„Die Kunst ist das Gewissen der Menschheit.“
Friedrich Hebbel (1813 – 1863)
Im Fokus About the bees and the birds und Element 119 De
Text: Dr. Diana Lenz-Weber, Kunsthistorikerin
Die Augen werden aufgefordert spazieren zu gehen, sich die Tiefe zu erobern. In den vielschichtigen Zeichnungen und Installationen von Katharina Meister gibt es viel zu entdecken, zu assoziieren und zu interpretieren. Die Werke sind künstlerisch von ästhetischem Reiz, erzählen jedoch eher von der unschönen Seite der Wirklichkeit.
Die beiden näher beleuchteten Arbeiten About the bees and the birds und Element 119 De entstanden neben weiteren Arbeiten im Jahre 2016 in der Otmar Alt Stiftung in Hamm-Norddinker. In der ländlichen Abgeschiedenheit vermochte es die damalige Stipendiatin, mit viel Konsequenz ihre Kunstsprache zu festigen.
Katharina Meister, die an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe studierte, interessiert sich für politische und soziale Themen. Mittlerweile beschäftigen sie vor allem der Klimawandel und dessen katastrophale Folgen für Umwelt, Tier und Mensch. All dies ist in ihren Werken nicht auf den ersten Blick sichtbar, sondern eröffnet sich erst bei detaillierter Betrachtung, genau wie die Veränderungen in der Natur meist nicht sofort wahrgenommen werden.
Das bevorzugte Medium der Künstlerin ist Papier, denn es kann arbeiten, sich bewegen und auf diese Weise lebendig werden. Es lässt sich – wenn es nicht wie üblich flach auf einem Hintergrund fixiert wird – verformen und dadurch kann es, abhängig von den Lichtverhältnissen, Schatten werfen. Insbesondere bei den Papierschnitten, die als feinsinnige Referenz an die Kulturgeschichte der cut-out-Technik gelesen werden können, muss das Cuttermesser mit Präzision geführt werden, damit das gewünschte Licht- und Schattenspiel seine Wirkung entfalten kann. Ein einziger verfehlter Schnitt kann die Arbeit zunichtemachen. Mit ihrer Paper-Art führt uns Katharina Meister die Vielseitigkeit dieses Materials von sensiblen Zeichnungen über filigrane Papierschnitte bis hin zu voluminösen Plastiken vor Augen. Die Papierelemente kombiniert die Künstlerin häufig mit Holz – eine schlüssige Verbindung, da Papier aus Holz entsteht.
Eine der Werkgruppen von Katharina Meister bilden die Guckkästen. Als Träger für ihre künstlerischen Arrangements verwertet die Künstlerin ausrangierte Vitrinen oder Kästen aus naturhistorischen Sammlungen, in denen ehemals Pflanzen oder tote Insekten verwahrt wurden. Die alten Kästen zeigen sichtbare Spuren der Zeit, stehen für Leben und Tod und für das, was davon übrig bleibt. Gleichwohl ermöglicht die Form der Vitrine und ihre Tiefe der Künstlerin einen eigenen Bildraum für ihre vielschichtigen, häufig surreal anmutenden Kulissen, die, hinter Glas gesetzt, entrückt zu sein scheinen.
Die schattenreiche Szenerie im Guckkasten About the bees and the birds mutet wie eine melancholische Traumlandschaft an. Die Dinge, wie Bäume und das im Dickicht verfangene Haus, sind in eine Schieflage geraten, sie verlieren an Boden. Auf der öden Erde gedeiht und blüht nichts. Über einem der kargen Bäume schweben drei wabenförmige Gebilde. Das untere verschwindet dahinter. Hinter dem anderen Baum, zur Hälfte verdeckt ein Schmetterling, durchscheinend, flach, starr und unbeweglich. Er ist gefangen von einem stachelig konturierten weißen Rechteck. Dahinter schiebt sich als Lichtblick ein weiteres Rechteck hervor, diesmal jedoch in zartem taubenblau. Auffallender als das Graublau sind die gelben Partien in der hauptsächlich von Weiß über Grau bis hin zu Schwarz gefassten Darstellung. Gelb tritt als kräftige Markierung auf den Wabenmustern auf. Duftig dagegen ist das Gelb, das heiligenscheinartig die von dem fallenden Baum verschluckte Wabenfigur umkreist. In einem weiteren Baum kauert eine mit einem selbst gebastelten Werkzeug zum Blütenbestäuben ausgerüstete, männliche Gestalt. Um ihn fliegen die Blüten durch die Luft und fallen langsam zu Boden.
Die Arbeit mit dem vermeintlich heiter klingenden Titel verweist allgemein auf die Zerstörung vom Fluss der Dinge und im Besonderen auf eine der großen Massenkampagnen, die sich unter Mao Zedong ereignete. Der frühere chinesischeStaatschef war überzeugt, dass der Mensch die Natur besiegen könne, wenn nur genügend Menschen zusammenarbeiteten. 1958 schickte er seine 600 Millionen Untertanen in den Krieg gegen die Natur, um die Spatzen zu töten, die die Ernte fraßen. Daraufhin breitete sich bald eine nicht zu bändigende Insektenplage aus – auch die nützlichen Bienen, die viele Nutzpflanzen bestäuben, vermehrten sich ohne den gefiederten natürlichen Fressfeind. Um nun dieses Übel der Natur zu vernichten, wurden Pestizide auf den Feldern versprüht. Dies wiederum verursachte einen kompletten Ernteverlust, der zu einer der größten Hungersnöte der Menschheit führte. In den bienenlosen Regionen Chinas bestäuben nun Menschen die Pflanzen mit Pollen – weitaus weniger effektiv als die Bienen. Um die Insektenanzahl in Schach zu halten, führte man Spatzen aus Russland ein. Bis heute hat sich der Spatz in China noch nicht vollkommen erholt. In der ausgewogenen künstlerischen Komposition tragen die einzelnen Komponenten dazu bei, das Ganze einer in sich abgeschlossenen Welt sichtbar zu machen.
Katharina Meisters Werke basieren auf präzisen Vorarbeiten. Für einen konkreten Wissensstand über die gewählten Sujets recherchiert sie in den Medien und dokumentiert die Kenntnisse in Skizzenbüchern. Sie fertigt Entwürfe, häufig auf Pergament. Anschließend werden die Elemente bestimmt, die sie formen und arrangieren möchte: Papier, Karton, Naturmaterialien und Fundstücke, gelegentlich in wenigen Farben gefasst. „Die Antwort kommt im Prozess“, sagt die Künstlerin, die sich von Intuition und Achtsamkeit leiten lässt. So ruhig und akribisch, wie Meister an ihren Formen feilt, ist ihr Werk also etwas Natürliches. Sie lässt es wachsen, mit feinfühligem künstlerischen Gespür.
Künstler können „um die Ecke denken“. Diese Eigenschaft macht sie erst zu Künstlern. Ihre Intention ist es, etwas darzustellen, über das ein Anderer nachzudenken beginnt. Genau das ist auch das Anliegen von Katharina Meister. Die Titel ihrer Arbeiten sind richtungslenkend, klären jedoch nicht von vorneherein auf, sondern machen eher neugierig.
Element 119 De heißt die im Folgenden vorgestellte Papierinstallation von enormer Drastik. Bereits auf den ersten Blick bringt diese monumentale und raumgreifende Arbeit zum Ausdruck, dass die Welt aus dem Lot geraten ist. Das dreischichtige Wandelement – ein „Meister“-Werk aus schwarzem Papierschnitt – wirkt nicht nur durch seine langgestreckte ovale Form dynamisch, sondern auch daher, dass seine drei Ebenen zum Betrachter hin immer kleiner werden. Bei allen Ebenen gleich ist die kreisrunde Mitte, quasi ein Dreh- und Angelpunk, aus dem, wie entladend, nicht nur die „(Papier)-Fetzen“ fliegen. Ebenso die hauchfein geschnitzten Bäume drohen zu knicken, sowie die Kuben ohne Oben und Unten, die Häuser versinnbildlichen, werden durch das Szenario geschleudert, nach außen weggesprengt und wie von einem kosmischen Strudel erfasst. Forciert wird der Ausdruck des Drehens und Wirbelns dadurch, dass die ovale Wandinstallation schräg hängt. Vor dem Papierschnitt schweben drei extrem gebauchte ovale Papierplastiken. Man sieht ihnen die Leichtigkeit, über die sie verfügen, nicht an. In die Plastiken kann man durch Öffnungen hineinblicken, in den ersten beiden trifft man wieder auf Natur bzw. Technik, bei der dritten soll der Betrachter „aufwachen und sich selbst verorten.“
Der Titel des Werks verweist auf das Periodensystem, das derzeit allerdings mit dem Element 118 Uuo endet. Für diese liebste Tabelle der Chemiker, in der jedes sowohl natürliche als auch künstlich erzeugte Element mit einer Ordnungszahl mit Formelzeichen erfasst ist, schlägt Katharina Meister das die Tabelle weiterführende und durch ihre Kunst manifestierte Element 119 De vor. Das Kürzel De steht für Demut. „Da unsere Welt auf Grund von Klimawandel, Flüchtlingsströmen, Zerfall der EU, um nur ein paar der Themen zu nennen, gerade zu zerbrechen droht, frage ich mich, was das fehlende Element ist. Es ist das Element, das wir vielleicht noch nicht entdeckt haben oder wieder entdecken müssen. Das Element, mit dessen Hilfe es gelingen könnte, unsere Welt als die Grundlage unseres Lebens zu erkennen, ein Ort, den wir uns alle teilen müssen und mit dem wir nachhaltig umgehen sollten. Demut ist nicht im Sinne einer Unterwürfigkeit zu verstehen, sondern als Verständnis, dass das Ich nur ein Teil des Ganzen ist und auch nur innerhalb dieses Ganzen existieren kann. Im Zeitalter neuer Technologien und sozialer Medien scheint es zum Zwang geworden zu sein, sich selbst darzustellen, zu präsentieren. Das Ich nimmt immer mehr an Bedeutung zu. Dabei verliert man aus den Augen, wie bedeutsam es ist, sich als Teil eines Ganzen zu erkennen…, aber auch als Teil der Natur, als Teil der Welt!“ Die Worte wie Arbeiten der naturwissenschaftlich gebildeten Künstlerin widerspiegeln ihre eigene Bescheidenheit und Demut vor der Natur, wie man sie selbst in den geringsten Werken des Schöpfers und in allem von Menschenhand errichteten finden kann. Katharina Meisters bisher geleistetes Œuvre kann und will die Menschen zu einer ernsthaften Diskussion über die Beziehung des Menschen zur Natur verleiten.
Erschienen im Katalog Katharina Meister, ISBN 978-3-86206-622-3