Heterotopien
Text: Cornelia Wichtendahl, Kunsthistorikerin
„...wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“
(Michel Foucault)1
Schwarz wie Schatten zeichnen sich die Konturen von Bäumen vor einem hellen Hintergrund ab. Sie erscheinen winterlich kahl, haben all ihr Laub verloren. Eine vermeintlich romantische Landschaft entsteht vor dem Auge des Betrachters, zieht ihn in sich hinein. Es ist ein großformatiger Papierschnitt vor einem gemalten Horizont sowie eine gerahmte Zeichnung, die inmitten der Landschaft hängt. Und es ist diese Zeichnung, die uns einen Hinweis auf die Lesart gibt, die der Schnitt allein uns nicht verrät: Eine Gasmaske und ein abgestorbener Baum weisen darauf hin, dass es sich hier nicht um eine romantische, winterliche Landschaft handelt. Die Bäume sind abgestorben, verdorrt oder verkohlt, der Boden nur sandige Wüste oder Schlamm und über allem wölbt sich ein weißlicher Himmel. Zwei Kreisformen zeichnen sich am Himmel ab. Die eine könnte auf die Sonne verweisen, die andere aber zeichnet die Bewegung eines fallenden, abgestorbenen Baumes nach.
Der Schnitt „...und es regnet“ besteht aus mehreren Papierbahnen und so rahmen und unterteilen senkrechte Linien die Bildfläche, lassen den Eindruck einer Fensterunterteilung entstehen. Unterstützt wird dies durch eine helle Fläche, die einem Fenstersturz gleich den Schnitt nach oben begrenzt. Damit wird die Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis zum Bild bzw. an welchem Ort der Betrachter sich befindet. Befindet er sich in einem Raum und schaut hinaus auf die abgestorbene Landschaft? Wäre die gerahmte Zeichnung ein weiterer Hinweis darauf? Aber wo genau befindet sie sich? Und wie kann ein Leben in dieser Umgebung überhaupt möglich sein?
Die Arbeiten von Katharina Meister irritieren, beunruhigen, werfen Fragen auf, lassen sich schwer einordnen. Ort und Zeit bleiben unbestimmt, und werden gerade dadurch thematisiert. „Heterotopien“ nach Michel Foucault nennt sie diesen Werkzyklus. „Die Heterotopie vermag an einem einzigen Ort, mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind.“2 Und sie „erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.“3 So kann Zeit in ihnen beispielsweise durch das Bewahren der Vergangenheit gespeichert sein, wie dies in Museen geschieht.
In alten, ausrangierten Vitrinen oder Kästen aus naturhistorischen Sammlungen, in denen ehemals tote Insekten aufbewahrt wurden, fügt Katharina Meister ihre Installationen zusammen. Die Kästen zeigen deutliche Spuren der Zeit. Macht man sich ihren ehemaligen Verwendungszweck bewusst, unterstützt dies den Eindruck von Vergänglichkeit. Sie stehen für Leben und Tod und das was davon übrig bleibt. Ihre Aufgabe war es, die Vergangenheit zu bewahren, also im Foucaultschen Sinne die Zeit zu speichern. Gleichzeitig ermöglicht die Form der Vitrine, ihre Tiefe, einen eigenen Bildraum. Neue Räume, „wirkliche Räume“ wie Foucault sie nennt, entstehen, werden thematisiert und obwohl scheinbar unvereinbar zusammengefügt. Papierschnitte, Zeichnungen und skulpturale Elemente, häufig Fundstücke, teilweise alt und schon etwas verwittert, gruppieren sich im Bildraum. Verweise auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auf Innen- und Außenraum sind zu finden, doch ihr Verhältnis zueinander erschließt sich nicht sofort, verlangt eine intensive Auseinandersetzung.
Der Papierschnitt der Installation „...und es regnet“ taucht in der Arbeit „Hochgehängt“ wieder auf. Hier jedoch in einem wesentlich kleineren Format. In einer alten Vitrine sind mehrere Bildebenen hintereinander gestaffelt, zwei Papierschnitte und mehrere skulpturale Elemente bilden verschiedene, nicht klar definierte Bildräume. Vor einem grünlichen Hintergrund zeichnen sich die Bäume des schon bekannten Schnittes ab. Hier scheint es jedoch noch Leben zu geben. Hinter den Pflanzen des vorderen Schnittes tauchen auf einer schrägen Ebene links unten im Bildraum mehrere aus Holz geschnitzte Figuren auf. Auch Spuren menschlichen Handelns wie ein Zaun, an Stromleitungen erinnernde schwarze Bänder aus Gummi und in verdorrten Zweigen befindliche ballonförmige Behausungen sind sichtbar. Und nur die Düsternis der Schnitte, die irritierende Farbigkeit des Himmels und vielleicht noch die kahlen Zweige lassen vermuten, dass hier etwas nicht stimmen könnte, die Behausungen der Menschen werden sich nicht ohne Grund in den Bäumen befinden.
Katharina Meister kombiniert unterschiedliche Medien in ihren Arbeiten: Neben verschiedenartigen skulpturalen Elementen aus Holz, Metall oder Papier nehmen Zeichnungen und besonders Papierschnitte einen zentralen Raum ein. Der Papierschnitt erhält seinen Ausdruck von der Kontur, von Umriss und Fläche, lebt vom Hell-Dunkel-Kontrast. Die Reduzierung auf eine Farbe, der Verzicht auf Perspektive, Verkürzungen und Überschneidungen führt zu einer sehr klaren Bildsprache. Zudem setzt er die plastische Qualität der Linie frei, bezieht den Raum mit ein, ermöglicht einen Schattenwurf. Katharina Meister arbeitet im Silhouette-Schnitt, dem Umrissschnitt, der seit dem 18. Jahrhundert bis zum Ende des Biedermeier und der Entwicklung der Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa sehr beliebt und verbreitet war. Pflanzen, Tiere, Landschaften, romantische Genreszenen und Portraits wurden u.a. von Philipp Otto Runge (1777 – 1810) oder Adolph von Menzel (1815-1905) im Papierschnitt realisiert.
Die aus schwarzen Papier geschnittenen Baum- und Pflanzen-Silhoutten nehmen eine zentrale Position in den Arbeiten von Katharina Meister ein, und doch sind ihre Werke keine romantischen Landschaftsbilder. Katharina Meister beschäftigt der Umgang der Menschen mit der Natur und die möglichen Folgen des von ihm verursachten Klimawandels: Überschwemmungen und Verwüstungen, Brände, Katastrophen, verseuchte Gewässer oder Böden. Sie geht der Frage nach welche Form ein zukünftiges Leben haben kann. All dies ist nicht auf den ersten Blick sichtbar, eröffnet sich erst bei eingehender Betrachtung, genau wie die Veränderungen in der Natur meist nicht sofort wahrgenommen werden.
So thematisiert auch die Arbeit „Faltplan“ eine mögliche Lebensform nach der Katastrophe. Sie zeigt verschiedene Architekturen in kahlen Ästen und liefert gleich den Bau- bzw. Faltplan dazu. Die Natur ist fast vollkommen aus dem Bild verschwunden, neben den Ästen sind nur einige Reste von verdorrtem Gras und Moos am unteren Bildrand zu finden. Und wie zur Erläuterung dessen, was hier passiert ist, zeigt eine Zeichnung eine in verseuchtem Wasser versinkende Landschaft.
Das Gegenstück dazu, in einem gleichen Kasten, bildet die Arbeit „Verzug“. Auch in dieser ist der Bildraum gestaffelt. Vor einer nicht genauer bestimmbaren Landschaft scheint eine Plakatwand zu stehen, auf der verschiedene grau-braune Schattierungen die Formen von Kontinenten ergeben. Nur stimmen deren Umrisse nicht exakt mit den uns bekannten überein, sind leicht verändert. An einigen Stellen ist Land hinzu gekommen, an anderen scheint das Meer sich welches genommen zu haben. Die Weltkarte wird teilweise verdeckt von drei kahlen, schwarzen Bäumen. Es sind Papierschnitte, die an einem Draht aufgehängt sind. Davor, am unteren Bildrand liegen mehrere Boote wild durch- und übereinander gewirbelt, erinnern sie an Bilder von Küsten nach Stürmen oder Flutwellen. In dieser wie auch in den Arbeiten „Polder“ und „Rollrasen“ thematisiert Katharina Meister den Kampf um Land, der zwischen Mensch und Natur ausgetragen wird, ein Kampf, bei dem noch unklar ist, wer am Ende siegreich daraus hervor gehen wird.
Die wilde Kraft der Natur und das Planungsbestreben des Menschen, zwei Elemente die im stetigen Wettstreit miteinander liegen, die nicht zusammen gehörig erscheinen. Sie werden von Katharina Meister in der Serie „Landschaftsräume“ miteinander verbunden. In Vitrinen kombiniert sieZeichnungen mit Papierschnitten sowie verschiedenen skulpturalen Papierobjekten und Fundstücken. Gezeigt werden vom Menschen gestaltete Innenräume, in denen sich dort fremd erscheinende Versatzstücke aus Landschaften befinden. Gemusterte Tapeten an den Wänden der Räume verweisen auf bewohnbare Zimmer, jedoch wächst ein Baum in einer Art Vogelkäfig oder taucht eine geöffnete Schublade aus einem Gebüsch auf, erscheinen Bäume und Sträucher in Durchgängen oder Öffnungen zu weiteren Räumen. Der Raum, das Zimmer, der Lebensraum des Menschen ist hier auch der Lebensraum der Landschaft. Innen und außen sind miteinander verschränkt, nicht mehr klar zu definieren, so entstehen an einem Ort verschiedene (Lebens-)Räume, die unvereinbar scheinen.
Die Landschaft, definiert als ein geografisches Gebiet, dass sich durch unterschiedliche Merkmale von anderen abgrenzt, wird durch den Menschen in vorgegebene Grenzen, in seinen Lebensraum gepresst. Oder erobert sich die Landschaft, die Natur, den vom Menschen besetzten Raum zurück? Katharina Meister verwendet das Bild der Landschaft als Sinnbild für ein in sich stimmiges System, für Freiheit und Wildwuchs, den Kreislauf der Natur. Im Gegensatz dazu steht der Innenraum als architektonisches Element für Macht und Zweckorientiertheit, den Eingriff in bestehende Systeme durch den Menschen, aber auch für das Vermögen weiterzudenken und aufzuarbeiten, Lebensbedingungen zu verbessern. Und genau diesen Zwiespalt, diese innere Zerrissenheit thematisiert Katharina Meister in ihren Arbeiten.
1 Michel Foucault: Andere Räume, in Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 39
2 Foucault, S. 42
3 Foucault, S. 43
Erschienen im Katalog: Katharina Meister ...und es regnet, 2013